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Exklusiv: Pressefreiheit in Kasachstan im Argen
Platz 155 von 180 weist RSF Kasachstan in seinem Ranking aus, was zwar hinterfragenswürdig ist, aber immerhin eine ungefähre Einschätzung der Situation zulässt. Eines steht jedoch fest: Diese Platzierung steht überhaupt nicht in Einklang mit dem, was der derzeit amtierende Präsident Kassym-Schomart Tokajew mit dem Land vorhat =
Nur-Sultan, 9. März 2022 - Der Präsident ist gewillt, binnen kürzester Zeit das gesamte in den vergangenen Jahren entstandene System der ehemaligen Sowjetrepublik umzukrempeln. Nutznießer des bisherigen politischen Systems seien nämlich Finanz- und Oligarchengruppen, die allesamt rund um den ehemaligen Präsidenten Nur-Sultan Nasarbajew angesiedelt sind.
Geprägt von sowjetischer Einstellung regierte dieser das Land rund 30 Jahre lang als dessen autoritärer Präsident, schuf dabei aber eine Struktur, die ausschließlich ihm und seiner Familie und einigen engen Vertrauten zugutekam. Um dies abzusichern, blieb er nach seiner Amtsübergabe bis November vorigen Jahres Vorsitzender der Partei Nur Otan und bis Jänner heurigen Jahres auch Chef des Sicherheitsrates. Eine Funktion, die er eigentlich auf Lebenszeit innehatte, wegen der Unruhen zu Beginn des Jahres aber abgeben musste. Außerdem verfügte er über ein Vetorecht bei Ernennungen zu wichtigen Ämtern im Land, durch seine in der Verfassung verankerte Position als „Führer der Nation“ war er eigentlich der mächtigste Mann des Landes.
Doch damit ist nun Schluss. Die Unruhen im heurigen Jänner in mehreren Städten des Landes - laut Regierungssprecher und offizieller Redensart wurden erlaubte friedliche Demonstrationen gegen zu hohe Flüssiggaspreise von Kriminellen, Terroristen und radikalen Elementen ausgenutzt, um einen Umsturz herbeizuführen – haben das Gegenteil von dem bewirkt, was sich Nasarbajews Leute erhofft haben. Statt der Schwächung des Präsidenten, mit dessen liberalem Kurs, seinen Demokratieüberlegungen und sozialen sowie ökonomischen Überlegungen man nicht zufrieden war, ging er gestärkt aus dem Konflikt hervor.
Er ließ Nasarbajev von allen Ämtern entfernen und brachte so alle nationalen Sicherheitsapparate unter seine Kontrolle. Denn die Sicherheitsorgane haben bei den Tumulten bewusst versagt. Eine weitere Destabilisierung Kasachstans hätte auch Auswirkungen weit über die Grenzen hinaus auf die gesamte Stabilität in Eurasien und Zentralasien gehabt. Zur Erinnerung: Russlands Präsident Putin hatte vor rund sieben Jahren mit ähnlichen Worten wie in seinem vorjährigen Essay zur Ukraine die eigenständige Souveränität eines Staates Kasachstan in Frage gestellt. An der rund 7.600 Kilometer langen Nordgrenze zu Russland wohnt ein Großteil russischstämmige Bevölkerung – die Parallelen zum Donbas sind nicht zu leugnen.
Neben dem Sicherheitsapparat übernahm Tokajew auch die Führung der regierenden Nur Otan-Partei, die kürzlich in Amanat umbenannt wurde, entließ zahlreiche Minister, und besetzte die zweithöchste Staatsfunktion mit Erlan Karin als Staatssekretär neu. Und er drückt nun aufs Tempo: Die erst für September geplante Rede zu einer Verfassungsreform wurde auf 16.März vorverlegt. An diesem Tag will Tokajew sein „New Kasachstan“ dem Volk und der Welt präsentieren. Einiges davon konnte [statement]-Redakteur Wolfgang Kasic live vor Ort in Kasachstan in Erfahrung bringen.
Neben der Beseitigung der oligarchischen Strukturen geht es um eine Neuverteilung des Reichtums zwischen einer kleinen wohlhabenden Minderheit und dem Rest der Bevölkerung, einer Zurücknahme staatlicher Beteilung an Unternehmungen, Privatisierungen, die Schaffung einer Entwicklungsbank, einem massiven Ausbau des Gesundheits- und Sozialwesens sowie um eine Reform der Strafverfolgungsbehörden.
Auch gesellschaftspolitisch wird sich einiges ändern. So sieht das Konzept des neuen Kasachstan eine Einheit der Gesellschaft, die Ablehnung jeglichen Radikalismus und eine schrittweise Heranführung an demokratische Systeme vor. Diese müsse das Volk nach jahrzehntelanger autoritärer Führung aber erst lernen, betont man auf Regierungsseite.
Parallel dazu arbeitet man an der De-Nasarbajewisierung des Landes. Geht es nach der Vorsitzenden des Untersuchungskomitees zu den Vorfällen im Jänner, Aiman Umarova, sollten der Ex-Präsident und seine Familie verhaftet und unter Anklage gestellt werden. Ganz offen wird über die Umbenennung der Hauptstadt Nur-Sultan (der Vorname des Expräsidenten) in den alten Namen Astana diskutiert, was vor allem die jüngere Generation begrüßen würde. Und die haben viel zu sagen. Von den knapp 19 Millionen Einwohnern sind rund 40 Prozent unter 25 Jahre alt. Die Zukunft von Kasachstan liegt in ihren Händen – und in jenen des 69-jährigen Präsidenten Kassym-Schomart Tokajew.
Text und Pressefotos: Wolfgang Kasic aus Kasachstan Compliance-Hinweis: Die Reise fand auf Einladung der Botschaft der Republik Kasachstan in Wien statt.